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Jeder ist ein Zeitzeuge

von Eva Habel, Heimatpflegerin der Sudetendeutschen 1999-2008 (erschienen im Kulturbrief der SL 5/99)

 

Zeitzeugen - bei diesem Stichwort denken die meisten an Zeugen politischer Ereignisse. Politiker wären daher besonders "gute", also interessante Zeitzeugen. Auch den Beteiligten mehr oder weniger dramatischer Ereignisse wird dieser Status des Interessanten zuerkannt.

 

Der Alltag früherer Zeiten erscheint aus einem solchen Blickwinkel nicht erwähnenswert, nicht erinnernswert. Doch tatsächlich ist gerade die Dokumentation von Alltäglichem wichtig. Wenn sich die nachgeborenen Generationen für ihre Herkunft interessieren sollen - und bei den meisten kommt dieses Interesse früher oder später -, dann müssen sie sich die Lebensumstände ihrer Eltern und Großeltern möglichst detailliert vorstellen können. Erst dann kann eine Identifikation stattfinden.

 

Jeder ist ein Zeitzeuge, und auch Alltägliches ist es wert, daß es erinnert und dokumentiert wird. Eine wichtige Herangehensweise an solche Dokumentationen ist die Befragung von Zeitzeugen. Sie wird im folgenden aus kulturwissenschaftlicher Sicht dargestellt.

 

Das Thema der Befragung

Zunächst muß das Ziel definiert werden, das mit der oder den Befragung(en) verfolgt wird. Geht es um eine "Gelegenheitsbefragung", um eine Person, die Interessantes zu erzählen weiß? Oder soll ein größeres Projekt durchgeführt werden? So interessant und spannend Lebensgeschichten einzelner zufällig ausgewählter Personen sein können, so erlauben sie doch keine Verallgemeinerungen. Ein groß angelegtes Projekt dagegen kann die Vielfalt sudetendeutscher Lebensumstände und Kultur aufzeigen.

 

Zur Definition des Zieles gehört auch die Eingrenzung des Interessensgebietes. Sollen vollständige Lebensgeschichten oder einzelne Lebensabschnitte dokumentiert werden? Oder interessiert eher ein bestimmter Themenbereich, wie z.B. ein bestimmter Beruf oder die Nahrungsgewohnheiten oder die Freizeitgestaltung? Zudem muß das Thema zeitlich, räumlich und sozial eingegrenzt werden. Sollen sudetendeutsche Lebensumstände vor oder nach der Vertreibung dokumentiert werden? Sollen alle sudetendeutschen Gebiete einbezogen werden oder nur bestimmte Regionen? Sollen die Befragten einen Querschnitt durch die sozialen Schichten bieten?

 

Anhand dieser Zieldefinition kann nun mit der Suche nach den richtigen Gesprächspartnern begonnen werden.

 

 

Die Suche nach Zeitzeugen

Die einfachste Möglichkeit, Gesprächspartner finden, besteht darin, Leute aus dem eigenen Bekanntenkreis anzusprechen. Gerade bei ihnen weiß man im allgemeinen nicht nur, wer über ein bestimmtes Thema viel zu erzählen hat, sondern auch, wer wahrheitsgetreu und ohne phantasievolle Ausschmückungen berichtet. Auch die Bekannten von Bekannten können oft weiterhelfen.

 

Aufwendiger, aber durchaus erfolgversprechend sind öffentliche Aufrufe, z.B. in Tages- und Heimatzeitungen. Je nach Thema werden unterschiedliche Kontaktpersonen angesprochen. Geht es um ein bestimmtes Handwerk oder Gewerbe, so können oft Firmen, die dieses Gewerbe noch ausüben, weiterhelfen. Auch manche Museen und Heimatstuben können Hinweise auf kompetente Gesprächspartner geben. Je großräumiger die Untersuchung angelegt ist, desto aufwendiger ist es, Gesprächspartner zu finden. Doch sind erst einmal die ersten Ansprechpartner gefunden, so ergeben sich weitere Kontakte oft wie von selbst.

 

 

Das Interview

"Viele Wissenschaftler der modernen qualitativen Sozialforschung und der Oral History sind sich ebenso wie journalistisch arbeitende Interviewer der Tatsache bewußt, daß erfolgreiche Interviewgespräche nicht nach festen Regeln zustande gebracht werden können. Es hängt von vielen Unwägbarkeiten ab, ob die Kommunikation im Interview gelingt." (Schröder 50).

 

Grundvoraussetzung ist eine gewisse Ungestörtheit. Die Befragung eines einzelnen mitten in einem gut besuchten Café durchzuführen, läßt keine guten Ergebnisse erwarten. Oft ist es am besten, man besucht die Befragten in ihrer eigenen Wohnung, in ihrer vertrauten Umgebung. Das Gespräch sollte nach Möglichkeit auf Kassette aufgenommen werden. Nach anfänglicher Zurückhaltung wird das Mikrophon meist schnell vergessen. Dennoch ist es nützlich, einen Stift und Papier bereitzuhalten, um sich zwischendurch die eine oder andere Notiz machen zu können. So kann man später gezielte Fragen stellen, braucht aber den Redefluß nicht zu unterbrechen.

 

Das Führen eines Interviews ist eine schwierige Gratwanderung. Der Fragende muß bereits ein relativ fundiertes Vorwissen besitzen, denn sonst ist es nicht oder nur schwer möglich, die richtigen Fragen zu stellen und das Gehörte einzuordnen. Die Fragen spiegeln dieses Vorwissen und enthalten implizite Unterstellungen. Der Befragte aber muß die Chance haben, seine Sicht der Dinge darstellen zu können und zwar auch dann, wenn sie dem Vorwissen des Interviewers widerspricht. Die Gefahr besteht durchaus, daß der Befragte seine Antworten an die Erwartungen des Fragenden anpaßt.

 

Zur Vorbereitung des Interviews gehört die Überlegung, welche Themenbereiche angesprochen werden sollen. Wie genau diese Überlegungen jedoch ausgearbeitet werden sollen, das ist umstritten. Ausformulierte Fragebögen erzwingen ganz bestimmte Antworten und einen ganz bestimmten Gesprächsverlauf.

 

Dazu ein Beispiel:

Die Stadt Minden ließ zu ihrem 1200jährigen Bestehen ein Tonarchiv mit Zeitzeugenaussagen erstellen, die den Zeitraum von etwa 1920 bis in die 1960er Jahre abdecken sollten (Reichold 1998). Die Arbeit war auf zwei Jahre angelegt, es wurde eine ABM-Kraft eingestellt. Knut Reichold erstellte, nachdem er sich in die Stadtgeschichte eingelesen hatte, einen Fragekatalog, der unter anderem folgende Themen enthielt: Rückkehr der Soldaten aus dem ersten Weltkrieg, Kundgebungen anläßlich der Gründung der Weimarer Republik und der allgemeinen Politik, Nachrichten über den Kapp-Putsch, die Weltwirtschaftskrise und Erwerbslosigkeit, Machtergreifung, Auftreten der SA, Wirtschaftserfolge der NS-Politik um 1935, Kriegsausbruch, Bombenkrieg, Kriegsende, Zusammentreffen mit Besatzern und Sperrbezirk, demokratischer Neubeginn, Flüchtlinge und Notkultur, Entnazifizierung und eine Reihe weiterer Themen.

 

Reichold besuchte seine Zeitzeugen in und um Minden grundsätzlich zweimal. Beim erstenmal sollte ein allgemeiner Eindruck und eine Vertrauensbasis geschaffen werden, formale Daten wurden festgehalten und das Anliegen nochmals erklärt. Darauf aufbauend erweiterte Reichold jeweils seinen allgemeinen Fragenkatalog um individuelle Fragenkomplexe, die sich z.B. mit der Wohnsituation in bestimmten Vierteln und mit dem Berufsleben beschäftigten. Dann wurde der zweite Besuch durchgeführt mit dem eigentlichen Interview. Reichold versuchte, die Gespräche chronologisch zu führen, d.h. er begann seine Fragen mit der Kindheit und führte sie über Jugendzeit in das Berufsleben fort.

 

Die Erfahrung zeigt jedoch, daß das Gedächtnis nicht rein chronologisch funktioniert. Oft ergeben sich durch das Erzählen Assoziationsketten, die von dem ursprünglichen Thema wegführen, andere Bereiche behandeln und dann vielleicht wieder zu dem ursprünglichen Thema zurückkehren. Das mag auf den ersten Blick störend erscheinen. Doch gerade wenn es um eine Lebensgeschichte geht, sind solche Abschweifungen ernst zu nehmen. Sie können dabei helfen, herauszuarbeiten, was für den Einzelnen in seinem Leben wirklich wichtig war.

 

Deswegen sind viele Forschungsinstitute gegen solche konkret ausgearbeiteten Fragekataloge. Will man alle Fragen des Mindener Projektes wirklich beantwortet haben, so dauert das Interview entweder viele Tage oder - und diese Wahrscheinlichkeit ist größer - es entsteht kein richtiges Gespräch. Statt dessen wird ein Punkt nach dem anderen abgefragt, und es besteht die Gefahr, daß der Befragte nur genau die jeweilige Frage beantwortet und nicht ins Reden kommt. Das aber ist - gerade bei erzählten Lebensgeschichten - das angestrebte Ziel. Als Interviewer kann man schließlich vor dem Gespräch nicht wissen, was für den Befragten wirklich wichtig war, das ist erst im Laufe des Gesprächs zu erfahren.

 

Sinnvoll ist es dagegen, sich einen Frageleitfaden zurechtzulegen und eine Einstiegsfrage vorzubereiten. Geht es um die Lebensgeschichte des Befragten, dann sollte man diesem auch die Regie überlassen. Er ist der Experte für sein eigenes Leben, und er muß das Recht haben, die Erzählung seines Lebens so zu gestalten, wie er das richtig findet. Ein zweiter Teil des Gesprächs oder auch ein zweites Interview kann dann Punkte aufgreifen, die zunächst unklar blieben.

 

Geht es jedoch um bestimmte Themen, so muß der Interviewer stärker in das Gespräch eingreifen. Es ist eine Eigenart erzählter Lebensgeschichten, daß vor allem auf markante Ereignisse eingegangen wird. Das Alltagsleben, die ganzen Details, die dieses Alltagsleben ausmachten, werden im Zusammenhang einer Lebensgeschichte oft nicht für erzählenswert erachtet. In solchen Fällen wird man immer wieder versuchen, das Gespräch sanft auf das eigentliche Thema zurückzulenken. Nicht immer gelingt das, und manchmal muß man auch flexibel genug sein, das Thema zu wechseln. Ich selbst wollte einmal mit einer über neunzigjährigen Frau ein Interview über das Wäschewaschen in den 1920er Jahren durchführen. Immer wieder schweifte sie ab auf andere Themen. Es war deutlich zu merken, daß das Wäschewaschen für sie ein völlig uninteressantes Thema war. Ich habe dieses ursprüngliche Thema dann aufgegeben und habe mich von ihr "führen" lassen. Sie erzählte mir dann eine hochinteressante Lebensgeschichte, deren bestimmender Faktor für die Zeit des Krieges und die erste Nachkriegszeit war, daß sie das "zweite Gesicht" hatte. Wie auch immer man die Glaubwürdigkeit solcher Erzählungen einstuft, für ihre Lebensgeschichte waren diese Erlebnisse wahr und wichtig.

 

Für ein gelungenes Interview ist es sicher nicht unbedingt notwendig, daß der Interviewer eine wissenschaftliche oder gar eine psychoanalytische Ausbildung hat. Dennoch sind Erfahrungen mit psychologischen und psychoanalytischen Methoden sehr hilfreich. Wichtig ist, daß der Fragende glaubwürdig ist, "er muß sich mit voller Aufmerksamkeit seinem Gegenüber zuwenden und sozusagen von innen her, nicht nur mechanisch bereit sein, ausdauernd zuzuhören" (Schröder 1995: 50). Nur dann kann eine Vertrauensbeziehung entstehen, die es dem Befragten ermöglicht, sich zu öffnen, sich an Ereignisse zu erinnern und von ihnen zu erzählen, über die er vielleicht seit Jahrzehnten nicht gesprochen hat.

 

 

In dem Buch "1945 waren sie Kinder. Flucht und Vertreibung im Leben einer Generation" von Alena Wagnerová (1990) ist der Bericht eines Hohenstädters mit "Meine Heimat interessiert mich nicht ..." überschrieben. Als Nachtrag zu diesem Bericht schreibt die Frau des Befragten: "Es war eine schlimme Woche nach dem Gespräch. Wir haben schon öfters darüber gesprochen, aber so bewegt wie jetzt habe ich ihn lange nicht gesehen. Er würde das Interview auch nicht mehr machen wollen. Es bringt doch alles nichts, meinte er. Ich glaube, es hat in ihm doch vieles aufgewühlt, was er verdrängt hat. Was alles in ihm hochkommt, war für ihn nicht voraussehbar" (Wagnerová 1990: 32).

 

Das Interview kann sehr viel in dem Befragten aufwühlen, der anschließend damit alleingelassen wird. Der Fragende darf den Befragten deshalb nicht als Objekt betrachten, das ihm um jeden Preis Informationen liefern soll, sondern er ist zu einem verantwortungsvollen Umgang mit ihm verpflichtet. Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen sind notwendig, um zu erkennen, wann die psychische Unversehrtheit des Befragten gefährdet ist und auf weiteres Nachfragen verzichtet werden muß. Andererseits kann das Sprechen über schlimme, verdrängte Erlebnisse durchaus etwas Heilsames haben.

 

Daß der Interviewer in solchen Gesprächen nicht unbeteiligt bleiben kann, versteht sich fast von selbst. Er kann durch das Interview selbst stark belastet werden. Auch dazu ein Zitat. Es stammt von Erika von Hornstein, die 1959/60 für eine Buchrecherche mit DDR-Flüchtlingen noch im Flüchtlingslager Interviews führte.

 

"Die erzählten also - und es ist mir sehr nahegegangen. Es hat mich unglaublich angestrengt. Ich habe es eben nicht professionell gemacht, sondern habe es gemacht, ja, wie ich's mit Freunden machen würde. Ich hab sie angehört, habe mir unendlich lange Zeit für sie genommen. Stunden und manchmal Tage. Ich hab sie mit nach Haus genommen, hab sie wiedergetroffen - anders geht's gar nicht. Die waren überhaupt nicht gewohnt, daß jemand sich für sie Zeit nimmt. Die kannten es nicht, daß jemand auf sie eingeht, Verständnis hat, sie nicht abfragt, sondern zuhört. Das war's. Monatelang hab ich das gemacht. Ich war wie aus dem Wasser gezogen. Es war eine ungeheure Anstrengung, weil ich es ganz allein machen mußte. Ich hab kein Vorbild, kein Schema gehabt, hab sowas nicht gelernt. Aber eines kann ich sagen, das hab ich erfahren: Wer so etwas macht, wer solche Aussagen bekommen will, muß glaubwürdig sein, als Person. Da sind ja auch scheußliche und schlimme Leute reingekommen, Leute, mit denen ich eigentlich nicht hätte sprechen wollen. Aber Abwehr gab's für mich nicht. Wie ein Arzt mußte ich mir die Krankheiten anhören, den Aussatz angucken, der da vielleicht war" (zit. nach Schröder 1995: 49).

 

 

Über die Zuverlässigkeit von Zeitzeugen

Zeitzeugenberichte sind als Berichte über vergangene Lebensumstände und Ereignisse nur dann etwas wert, wenn sie wahr sind.

 

Natürlich können auch Berichte, die faktisch falsch sind, Aufschluß geben über die Selbstinterpretation der Befragten und ihre Art und Weise der Lebensbewältigung. Doch dies fällt dann wirklich in das Gebiet der Psychoanalyse.

 

Dokumentationen dagegen verdienen diesen Namen nur, wenn sie zutreffend berichten. Das trifft nicht nur für Befragungen zu, sondern ebenso für autobiographisches Schreiben. Der Befragte und der Autor müssen selbstkritisch genug sein, alle ihre Aussagen stets auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Nicht wie es gewesen sein könnte, sondern wie es war, soll dokumentiert werden. Sentimentale Verklärung ist hierbei doppelt hinderlich. Zum einen verfälscht sie die geschichtliche Wirklichkeit, zum anderen stößt sie die jüngere Generation ab, die oft ein sehr feines Gespür für falsche Töne hat, und verhindert damit gerade das, was sie fördern will, nämlich die Beschäftigung und Identifikation mit den eigenen Wurzeln.

 

Natürlich kann auch der Interviewer niemanden zwingen, die "ganze Wahrheit" über Ereignisse zu sagen, wenn er es nicht will - sei es, weil die Wahrheit zu schmerzlich oder zu beschämend für ihn ist. Hier ist, wie gesagt, Zurückhaltung geboten. Obwohl der Befragte also nicht alles erzählen muß, sollte er klar sagen, daß er über bestimmte Punkte nicht sprechen will - das kann zu Beginn, aber auch jederzeit während des Interviews der Fall sein. Wichtig ist, daß er sich nicht etwas ausdenkt, nur um den Interviewer zu befriedigen und sich aus der Affäre zu ziehen.

 

Es muß nicht immer eine bewußte Lüge sein, die zu Verzerrungen führt. Auch die Erinnerung kann einem einen Streich spielen. Gerade unangenehme Ereignisse oder Erlebnisse, vor allem wenn man selbst keine rühmliche Rolle dabei spielte, verändern sich mit den Jahren in der Erinnerung. Doch auch das Alltagsleben ist oft schwierig zu erinnern. Bei relativ gleichförmigen Inhalten beginnen die Tage ineinander überzugehen; Gegenstände, die man ständig sieht, von denen man ständig umgeben ist, nimmt man irgendwann nicht mehr richtig wahr.

 

Je brisanter das Thema ist, desto sorgfältiger müssen die Aussagen der Gewährspersonen überprüft werden, z.B. indem weitere Zeugen befragt oder schriftliche Quellen ausgewertet werden. Im Allgemeinen gilt, daß sich konkrete, insbesondere politische Ereignisse schneller und sicherer anhand der klassischen schriftlichen Quellen rekonstruieren lassen. Wenn es aber um Lebensweisen, um Werte und Einstellungen geht, um die Bewältigung des Alltags und um die Bewältigung traumatischer Erlebnisse, dann ist die "mündliche Geschichte" unersetzbar.

 

 

Die Aufbereitung der Interviews

Die ausführlichsten Interviews und die umfangreichsten Autobiographien nützen niemandem, wenn sie nicht auf eine geeignete Art und Weise aufbereitet und Interessenten zugänglich gemacht werden.

 

Die Gespräche sollten vollständig auf Kassetten belassen werden, also nicht zusammengeschnitten werden. Das ist wichtig, um den ursprünglichen Zusammenhang zu bewahren. Gerade wenn es um politisch brisante Themen wie die Vertreibung geht, muß alles getan werden, um die Glaubwürdigkeit zu belegen und zu untermauern. Dazu gehört eben auch, daß die Originalkassetten als solche archiviert werden, am besten in einer zentralen Stelle.

 

Kassetten (und auch Videos) stellen jedoch archivarisch gesehen ein großes Problem dar. Zum einen führt der technische Fortschritt dazu, daß in absehbarer Zeit Kassetten von heute nicht mehr abspielbar sind, wie es mit Tonbändern aus den 60er Jahren bereits jetzt der Fall ist. Zum anderen haben die Magnetbänder nur eine begrenzte Lebensdauer. Ihre maximale Lebensdauer wird auf zwanzig Jahre geschätzt, doch ist es auch schon vorgekommen, daß Kassetten bereits nach vier Jahren nur noch ein Rauschen von sich geben. Längerfristig sollte der Inhalt der Kassetten daher auf digitale Datenträger übertragen werden.

 

Neben der Frage, wie die Bänder archiviert werden - das sollte man am besten einer größeren Institution überlassen, also zum Beispiel dem Sudetendeutschen Archiv -, stellt sich die Frage, ob und wie die Bänder transkribiert, also abgeschrieben werden sollen. An dieser Frage scheiden sich die Geister.

 

Noch einmal das Beispiel Minden:

Dort wurden die Bänder absichtlich nicht transkribiert, "um künftige Forscher zu zwingen, sich mit den Originalquellen direkt auseinanderzusetzen" und dabei implizite Informationen wie Zögern und Stimmlage mit zu erfassen (Reichold 1998: 132).

 

Tatsächlich muß jedoch auch der Forscher, der nach Minden fährt, um sich die Originalquellen anzuhören, diese in irgendeiner Weise abschreiben. Wenn das dann erst Jahre nach dem Interview geschieht, kann es sein, daß der Befragte längst gestorben ist, daß bei Unklarheiten - auch unklarer oder mundartlicher Aussprache - nicht mehr nachgefragt werden kann. Die meisten Forschungsinstitutionen sind dagegen der Auffassung, daß die Transkription der Bänder einen wichtigen und unverzichtbaren Arbeitsschritt darstellt.

 

Das Haus der Bayerischen Geschichte in Augsburg z.B., das zu seinen jeweiligen Ausstellungen jeweils Zeitzeugenberichte auf Video aufnimmt, läßt diese Videos immer auch transkribieren. Das bringt mehrere Vorteile. Das Gespräch ist dokumentiert - und zwar unabhängig von den technischen Möglichkeiten der Zukunft -, und es ist wesentlich leichter auszuwerten und zu verwenden. Einen vorliegenden Text kann man überfliegen, bis man zu einer interessanten Stelle kommt (man darf ja auch nicht meinen, daß solche Interviews nur aus interessanten, verwertbaren Aussagen bestehen). Dann kann man auf einen Blick erkennen, ob die Stelle für den anvisierten Zweck taugt. Im Haus der Bayerischen Geschichte werden aus den Zeitzeugeninterviews, die eine Stunde oder länger dauern, kurze Filme für die jeweilige Ausstellung zusammengeschnitten. Für diesen Schnitt ist es sehr hilfreich, den Text schriftlich vorliegen zu haben. In dem Skript kann man anstreichen, welche Stellen auf jeden Fall übernommen werden sollen, welche bei Bedarf noch aufgenommen werden können und was wegbleiben sollte.

 

Das Abschreiben der Kassetten ist keine rein mechanische Tätigkeit, als die es oft gesehen wird, sondern es ist der erste Schritt der Auswertung des Interviews. Das Abschreiben ist bereits eine Interpretation des Gesagten! Daher hat es Vorteile, wenn derjenige, der das Interview geführt hat, es auch transkribiert. Er hat sich in den Tonfall des anderen bereits eingehört, er kennt die Themen, um die es ging, er erinnert sich an die nonverbalen Gesten und den Gesichtsausdruck und kann manches Zögern und manchen Tonfall richtig deuten. Allerdings ist das Abschreiben durch den Interviewer nur bei Einzelbändern machbar, denn das Abschreiben nach den herkömmlichen Transkriptionsregeln (s.u.) dauert wesentlich länger als das Führen des Interviews und ist sehr mühsam.

 

Wenn eine Transkription durch den Interviewer nicht möglich ist, wäre es wünschenswert, wenn solche Bänder zentral gesammelt und nach einem einheitlichen System transkribiert würden. Wer ein größeres Projekt durchführen will, sollte dafür eine eigene Schreibkraft einplanen. Am besten ist es natürlich, wenn die Transkription gleich in den Computer eingegeben wird. Dann können später jederzeit Volltextrecherchen zu gewünschten Themen durchgeführt werden. Auch diese Transkriptionen müssen jedoch gepflegt werden, d.h. man muß die Datei immer wieder in neue Software-Versionen übernehmen, sonst sind sie eines Tages nicht mehr lesbar.

 

Wenn wissenschaftliche Stellen heute Transkripte herstellen, dann werden bestimmte, ziemlich komplizierte Regeln befolgt. Erstes Gebot ist, daß wörtlich übertragen wird. Zwar ist nicht endgültig geregelt, ob alle "ähs" und "hms" mitgeschrieben werden sollen. Doch versucht man auf keinen Fall, aus dem holprigen Text, den ein solches Gespräch fast immer ergibt, einen schönen Fließtext mit vollständigen Sätzen zu machen.

 

Im oberbayerischen Freilichtmuseum an der Glentleiten werden Transkripte folgendermaßen erstellt:

Die Seite wird in vier Spalten unterteilt. In der ersten, schmalen Spalte findet sich die Kassettennummer mit der Angabe der Bandmeter. Damit ist die jeweilige Stelle jederzeit auf der Kassette leicht wieder aufzufinden. In der zweiten, breiten Spalte findet sich der eigentliche Interviewtext, der mit den sogenannten Transkriptionsnotationen für die nonverbalen Äußerungen versehen ist. Eine Pause wird z.B. mit einem, zweien oder drei Gedankenstrichen angedeutet, je nach ihrer Länge. Nonverbale Kommentare kommen in doppelte Klammern ((lacht)). Die dritte Spalte enthält Stichworte zu dem danebenstehenden Originaltext. Damit sind gesuchte Inhalte sehr schnell aufzufinden. In der vierten Spalte haben die Interpretationen des Auswerters Platz, dort finden sich aber auch Verweise auf andere Stellen dieses Interviews, auf andere Interviews oder auf Literatur. Auf diese Weise kann immer unterschieden werden zwischen dem tatsächlichen Inhalt des Interviews und den Interpretationen.

 

Die Beschreibung zeigt schon, daß solche Transkriptionen nicht einfach herzustellen sind. Um ein 90minütiges Interview abzuschreiben, rechnet man im allgemeinen acht bis zehn Stunden (sollte es sich um ausgeprägte Mundart handeln, verlängert sich der Zeitraum deutlich). Bei einem Stundensatz von mindestens 20.- DM ergeben sich schnell 200.- DM pro Interview. Wesentlich billiger geht es nicht, denn die Erfahrung zeigt, daß man mit billigeren Schreibkräften meistens schlechter fährt und die Transkripte ärgerliche Mängel und Fehlinterpretationen aufweisen. Es ist nicht Sinn der Sache, wenn der Benutzer der Transkripte ständig ihre Richtigkeit anhand der Originalaufnahme nachprüfen muß.

 

Natürlich muß das Transkript mit ergänzenden Angaben versehen werden. Der Name, die Anschrift, das Geburtsdatum und der Geburtsort, der Heimatkreis etc. müssen erfaßt werden. Wichtig sind auch Informationen, die eine soziale Einordnung der Person zulassen, d.h. an erster Stelle der Beruf bzw. der Beruf der Eltern oder des Ehepartners. Wichtig und hilfreich ist es auch, wenn der Interviewer seine eigenen Informationen und Eindrücke niederschreibt und diese beim Transkript verbleiben. Für eine eventuelle Veröffentlichung können alle diese Angaben anonymisiert werden.

 

 

Die Veröffentlichung

Um die Berichte ganz oder teilweise veröffentlichen zu können, muß abgeklärt werden, ob der Befragte damit einverstanden ist, mit vollem Namen genannt zu werden, oder ob die Veröffentlichung anonym erfolgen soll. Am besten läßt man den Befragten bereits beim Interview bzw. danach, wenn er weiß, was er gesagt hat, eine schriftliche Erklärung abgeben.

 

Je brisanter ein Thema ist, desto wichtiger ist es, daß der Name des Zeitzeugen zumindest der sammelnden Stelle bekannt ist. Nur dies verleiht dem Bericht Glaubwürdigkeit. Nur dann kann der Bericht auch für spätere Generationen als vollwertiges Zeitzeugendokument gelten. Ob eine Namensnennung bei volkskundlichen Themen unbedingt notwendig ist, sei dahingestellt; ich sehe allerdings keinen Grund, warum Berichte über Nahrungsgewohnheiten, Weihnachtsbräuche oder Kinderspiele anonymisiert werden müßten. Glaubwürdiger und lebensnäher wirken sie mit Namensnennung allemal.

 

Die Form der Veröffentlichung wird je nach Anliegen unterschiedlich sein. Es gibt Beispiele, in denen der Interviewtext mit allen Holprigkeiten veröffentlicht wird. Bleiben die Berichte dann noch in nahezu voller Länge erhalten, werden sie jedoch sehr mühsam zu lesen. Eine häufiger genutzte Möglichkeit ist es, den Text redaktionell zu bearbeiten. Solche Eingriffe sollten jedoch sehr vorsichtig erfolgen, so daß die Eigenart des Sprechenden erhalten bleibt. Eine gute Möglichkeit ist es, in einen erläuternden und auswertenden allgemeinen Text Ausschnitte aus den Interviews einzufügen, die in wörtlicher Rede belassen, deren Holprigkeit jedoch etwas geglättet wurde.

 

Ein Beispiel eines Interviews mit einer Frau aus dem Schönhengstgau, bei dem der Text geglättet wurde, die Ausdrucksweise der Befragten jedoch beibehalten wurde:

 

I.:

Was waren da so typische Festgebäcke, zu Weihnachten also Striezel?

H.:

No.

I.: Zu Ostern ein Laiberl, Osterlaiberl?
H.: No, hamma mit Rosinen.
I.: Nicht geflochten?
H.: Nee. Und dann hamma solche Tonformen gehabt von Lämmer und Osterhasen. Da wurde so Biskuitteig reingemacht und da ward jedn auf sein Platz so a Vieh gestellt, des warndn so in der Größe - schön mollig, da hattma ooch was weg damit. Da hamma jeden auf seinen Platz, der wo kam, dann noch die bunten Ostereier dazu. Das war so bei uns die Gegend dort so sittlich (Schuhladen; Schroubek 1989: 84).

 

Unbedingt notwendig ist die Quellenangabe, die bei jedem einzelnen Zitat zu finden sein muß. Sie muß die wichtigsten, zur Veröffentlichung freigegebenen Personendaten angeben, aber auch, wo genau sich der Originalbericht auffinden und gegebenenfalls überprüfen läßt. Befindet er sich in einem Archiv, dann hat er im allgemeinen eine Signatur, die ebenfalls angegeben werden muß.

 

 

Ein Verzeichnis von Interviews und Autobiographien

Ungedruckte Zeitzeugenberichte, die in Privatbesitz verbleiben oder sich in einer Heimatstube befinden, sind für die Öffentlichkeit, für Auswertungen, für wissenschaftliche Forschungen im allgemeinen nicht auffindbar. Auch wenn solche Berichte häufig vor allem für die eigene Familie erstellt wurden, wäre es sicher im Sinne der Verfasser, wenn zumindest Teile davon öffentlich zugänglich wären.

Es wäre ein erster, wichtiger Schritt, einmal alle solchen Berichte zu verzeichnen. Bislang gibt es keinen Überblick über bereits vorhandene Zeitzeugenberichte, seien es Interviews oder autobiographische Aufzeichnungen. Dies wäre jedoch ein wichtiges Hilfsmittel. Man könnte schnell herausfinden, ob es zu bestimmten Themen bereits Material gibt und könnte dieses in Forschungen, Veröffentlichungen und Ausstellungen miteinbeziehen. Mit Hilfe eines solchen Verzeichnisses könnten zudem gezielt Lücken ausfindig gemacht und gezielt weitere Interviews und Schreibaufrufe durchgeführt werden.

 

Daher also die Bitte an alle, die solche Berichte in ihrem Besitz haben: Schicken Sie uns eine Auflistung dieser Berichte. Bei einer ausreichenden Resonanz kann dann ein Verzeichnis von Interviews und Autobiographien veröffentlicht werden.

Wichtig sind folgenden Angaben: Name und gegebenenfalls Anschrift des Verfassers bzw. Befragten; Geburtstag und -ort; Heimatkreis; gegebenenfalls Todesjahr; das Datum, zu dem Bericht verfaßt wurde bzw. das Interview durchgeführt wurde; der Umfang des Interviews bzw. des Manuskripts; ist es handschriftlich oder maschinenschriftlich, eine Kopie oder ein Original? Wichtig ist auch eine Inhaltsangabe in Stichworten, ähnlich einem Inhaltsverzeichnis, so daß die wichtigsten Inhalte leicht aufgefunden werden können.

 

 

Zitierte Literatur

  • Reichold, Knut: Die Erstellung eines Tonarchivs für das Mindener Museum. Standardisierungsvorschlag zur Erschließung von Oral-History-Quellen - ein Verfahren mit Ad-Hoc-Publizität und Volltextsuche. In: BIOS, Jg. 11 (1998), Heft 1, S.131-139.
  • Schröder, Hans Joachim: Erika von Hornstein. Pionierin des Tonbandinterviews. In: BIOS, Jg. 8 (1995), Heft 1, S.43-58.
  • Schuhladen, Hans; Schroubek, Georg R. (Hg.): Nahe am Wasser. Eine Frau aus dem Schönhengstgau erzählt aus ihrem Leben. Eine Dokumentation zur volkskundlichen Biographieforschung. München 1989 (Münchner Beiträge zur Volkskunde 9).
  • Wagnerová, Alena: 1945 waren sie Kinder. Flucht und Vertreibung im Leben einer Generation. Mit einem Vorwort von Peter Glotz. Köln 1990.